„Die Zeit und die Conways“ – Theater

„Die Zeit und die Conways“: Shadi Nouyan als Kay

Über das Stück (aus dem Programmheft):

John B. Priestley: „Die Zeit und die Conways“

(Uraufführung: London 1937)

John B. Priestley, Jahrgang 1894, gehört mit Eugen O'Neill, Thornton Wilder und auch John M. Synge (vielleicht erinnert sich noch jemand an den „Wahren Helden“, einer AMV-Produktion aus dem WS 1992/93) der Gruppe englischsprachiger Dramatiker an, die nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland entdeckt und wiederentdeckt wurden. Das durch die Naziherrschaft erzwungene kulturelle Vakuum führte ab der „Stunde Null“ dazu, daß die theaterdurstige Öffentlichkeit eifrig Werke aus dem Ausland rezipierte.

In seiner Autobiographie „Ich hatte Zeit“ charakterisierte sich Priestley als Mensch, der „im Grunde freundlich, mild, herzlich, schüchtern und ziemlich zaghaft“ sei - ein Porträt, das im Hinblick auf den Dramatiker Priestley verwundert. Dessen Werk scheint von einer fast wilden Angriffslust geprägt: seine Stücke sorgten immer wieder für Widerspruch, und nicht nur eine Premiere endete im Eklat. Der vielseitige Autor, der nicht nur in fast allen Sparten und Genres der Literatur herumvagabundierte, sondern auch seine Stücke zum Teil selbst spielte und inszenierte, läßt sich nur unter großem Vorbehalt in eine Schublade stecken. Wenn man Priestley jedoch auf eine Position festnageln wollte, so auf die des Moralisten, eines Moralisten, dessen Wurzeln unschwer im aufklärerischen Denken des 18. Jahrhunderts zu finden sind: der Mensch wird in die volle Verantwortung für sich und seine soziale Umwelt gestellt.

Diesen radikalen Denkansatz mildert Priestley durch seine humanitäre Haltung:
Er sieht, daß der Mensch am Aufbruch aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit scheitert und erkennt gleichzeitig die Ursachen dafür. Sie liegen für ihn sowohl in der individuellen Unfähigkeit, das eigene Gefangensein zu realisieren und in einem zweiten Schritt zu überwinden, als auch darin, daß wahrhaft menschliches Miteinander aufgrund von gesellschaftlichen Konventionen unmöglich gemacht wird. Priestley leidet mit den Menschen in ihrer Zeit.

Fast alle Theaterstücke Priestleys kreisen um dieses Dreieck: der Mensch - die Zeit - die Verantwortung. Der Einzelne und die Gemeinschaft, beide beherrscht durch ihr Verhältnis zur Vergänglichkeit, dies ist die vom Autor ausgelegte Spur, der zu folgen „Die Zeit und die Conways“ den Zuschauer einlädt. So wie der Mensch und der Dramatiker Priestley durch seine Vielseitigkeit geprägt seint, so entzieht sich auch das Stück dem geradlinigen Zugriff. Auf den ersten Blick erscheint es als die Realisierung einer genialen dramaturgischen Idee: das Stück arbeitet mit zwei Zeitebenen in einer Weise, die beim Publikum ein Maximum an dramatischer Ironie evoziert: die Veränderung vom ersten zum dritten Akt findet nicht auf der Bühne statt, sondern als direkte Auswirkung des zeitversetzten zweiten Aktes in den Köpfen und der Blickrichtung der Zuschauer.

Inhaltlich handelt das Stück von einer großbürgerlichen Familie und deren Niedergang. Auch vom schleichenden Absterben einer Gesellschaftsordnung, die mit ätzender Deutlichkeit als Scheinidylle, als schales Abbild ihrer eigenen Vergangenheit entlarvt wird. Es handelt von Generationenkonflikt und Beziehungskrisen, vom Umgang der Menschen miteinander, von der Gier nach Macht über andere, von Erniedrigung und Rache, vom Altwerden und immer wieder von der Zeit. Die Zuschauer, im Gegensatz zu den Figuren auf der Bühne, nehmen eine Perspektive ein, die das Leben in seiner Gesamtheit betrachten läßt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen, ganz im Sinne der philosophischen Überzeugung Priestleys, gleichberechtigt nebeneinander. Sie sind nur unterschiedliche Bezeichnungen für Betrachtungsvarianten auf ein Leben.

Damit aber wird ein Zustand erreicht, der den Menschen von seinem Gehetztsein durch die Vergänglichkeit erlöst und ihn so befreien will zur Möglichkeit, ein Leben in gesellschaftlicher Verantwortung gegenüber allen sozialen Partnern zu erlernen: „Wir leben nicht allein. Wir sind Glieder eines Körpers. Wir sind füreinander verantwortlich.“

Diesen ideale Miteinander wird im Stück nicht realisiert, aber es ist als soziale Utopie durch die Streitereien und verletzenden Gemeinheiten der Conways hindurch deutlich zu erkennen. Die Zeit ist nur scheinbar der „teuflische Zerstörer“ (Kay), ein Irrglaube, er die Menschen aus der Verantwortung für die Folgen ihres Tuns oder Nicht-Tuns entläßt und sie gleichzeitig zu gehetzten Jägern macht. „Aber die Zeit zerstört nichts. Sie führt uns nur - unser ganzes Leben lang - von einem Guckloch zum nächten“ (Alan).

Anja Emmert/Karin Schreibeis

Nicht markierte Zitate aus der Autobiographie Priestleys: „Ich hatte Zeit“ (Margin Released, 1962)

Auf der Bühne

Mutter Conway Ina Haendle
Carol Alexandra Freidl
Hazel Shadi Nouyan
Kay Dagmar Stötzer
Madge Ute Kaufmann
Alan Clemens Heydenreich
Robin Uli Marc Breimaier
Joan Helford Nicole Schymiczek
Ernest Beevers Stefan Mayer
Gerald Thornton Hannes Egger

Hinter der Bühne

Regie Christian von Normann
Souffleuse/Springer D'Oro Ullmann
Maske Michaela Weisser
Licht/Bühne Carsten Bokholt
Bühne Simon Amesöder
Ton/Paperware Andreas Brostmeyer
Dramaturgieassistenz Niels Rump
Musikberatung Karin Schreibeis
Plakatentwurf Holger Strichau
Executive Producer Christian von Normann

Am 22. Februar 1995 schrieben die Erlanger Nachrichten:

Unerfüllte Hoffnungen

AMV Fridericiana spielt Familiendrama von John Boynton Priestley

Familienidylle oder Familienhölle: beide Extreme liegen in dem 1937 uraufgeführten Stück „Die Zeit und die Conways“ von John Boynton Priestley eng beieinander. Die Theatergruppe der AMV Fridericiana führt das Schauspiel über die Entwicklung einer Familie zum letzten Mal heute um 20 Uhr in der Glückstraße 3 auf

Es beginnt mit einer Familienfeier. Zum 21. Geburtstag von Kay ist die gesamte Familie Conway mit Ausnahme des bereits verstorbenen Vaters versammelt: Mutter, vier Töchter und zwei Söhne. Auch der älteste Sohn Robin ist gerade aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt. Den Gästen spielen die Familienmitglieder in bunten Kostümen ein Worträtsel vor. Die Stimmung ist heiter und scheinbar ausgelassen. Nur Kay wirkt etwas niedergeschlagen.

Überzogener Anspruch

19 Jahre später: zu Kays 40. Geburtstag kommt die Familie abermals zusammen. Alle sind älter geworden. Ihre Wünsche und Hoffnungen von damals sind zum größten Teil unerfüllt geblieben. Die schöne Hazel ist unglücklich verheiratet. Robin hat beruflich und in seiner Ehe versagt. Kay, Madge und Alan sind berufstätig, aber unverheiratet. Carol, die Jüngste, ist tot.

Mutter Conway als Verkörperung großbürgerlichen Standesdenkens hält ihren Kindern ihre enttäuschten Erwartungen vor. Ihr überzogener Anspruch einer reichen, erfolgreichen und glücklichen Familie hat sich nicht erfüllt. Das Familientreffen wird zum Eklat.

In einer Rückblende erlebt der Zuschauer als wissender Beobachter schließlich noch einmal die Ausgangsposition vor 19 Jahren. Aus der Distanz werden ihm die übergroßen Erwartungen von damals vor Augen geführt, die Ursache für die spätere Unzufriedenheit und Entfremdung der Familienmitglieder sind.

Mit Bravour

Mit sparsamen Inszenierungsmitteln in Szene gesetzt, konzentriert Regisseur Christian von Normann den Schwerpunkt der Aufführung ganz auf die genaue psychologische Zeichnung der Charaktere, ihre Hoffnungen und Ängste.

Die zehn Schauspielerinnen und Schauspieler müssen sich in ihrer Ausdrucksweise den changierenden Zeitebenen anpassen und ihre wechselnden Sympathien und Antipathien untereinander verdeutlichen. Trotz des sehr engen Bühnenraums lösen sie diese Aufgabe mit Bravour.

Anne Gärtner