Das Wingolf-Schild – ein Märchen

Es war einmal ein Schild. Es hing an einem großen alten Haus mit einer gro­ßen al­ten Tür. Tag­täg­lich gin­gen Leu­te vor­über, oh­ne es wirk­lich zu be­ach­ten, und das är­ger­te es sehr. Sei­ne Be­sit­zer küm­mer­ten sich nur spär­lich um es, und es wur­de im­mer schmut­zi­ger, und es schäm­te sich sehr, dort über­haupt noch zu hän­gen. Eigent­lich war es noch gar nicht so alt, sah aber viel äl­ter aus. „Putz mich! Putz mich!“ rief es je­des Mal, wenn einer der Haus­be­woh­ner vor­über ging, doch die Ru­fe wa­ren ver­ge­bens.

Eines Abends kamen sechs tap­fe­re Rit­ter, die zu Gast in dem gro­ßen al­ten Haus mit der gro­ßen al­ten Tür wa­ren. Sie wur­den gut be­wir­tet, und als sie wei­ter­zie­hen woll­ten, rief das Schild wie­der: „Putz mich! Putz mich!“ Fünf der Rit­ter gin­gen vor­über, ohne es zu hö­ren. „Putz mich! Putz mich!“ wim­mer­te es noch ein­mal. Das ar­me Schild hat­te schon fast al­le Hoff­nung auf­ge­ge­ben, als der letz­te der Rit­ter sich um­dreh­te und das ar­me Schild dort hän­gen sah. Er hat­te Er­bar­men mit dem Schild und be­sprach sei­nen ge­hei­men Plan so­fort mit sei­nen Freun­den.

Drei zogen, damit es nicht auffiel, mit den Haus­be­woh­nern wei­ter zu einem an­de­ren gro­ßen Haus. Die an­deren drei rit­ten schnell in ihr Schloß, um das pas­sen­de Werk­zeug (10er Schrau­ben­schlüs­sel) zu ho­len. Zu­rück am gro­ßen al­ten Haus mit der gro­ßen al­ten Tür schli­chen zwei der Ed­len schnell hin­ter die Tür, die in wei­ser Vor­aus­sicht des letz­ten der Rit­ter nur an­ge­lehnt ge­blie­ben war. Der tap­fe­re drit­te Rit­ter hielt außen Wa­che. Schnell wa­ren die vier Schrau­ben ge­löst, doch das ar­me Schild ließ sich nicht von der gro­ßen al­ten Tür lö­sen, so lan­ge hing es schon da. Da ent­wi­ckel­te der stärks­te der Rit­ter Bä­ren­kräf­te (denn er hat­te vor­her sehr viel Zau­ber­trank ge­trun­ken) und schaff­te es, das ar­me Schild zu be­frei­en. Die gro­ße al­te Tür ächz­te und stöhn­te, so fest steck­ten die Schrau­ben im Holz. Die an­de­ren Be­woh­ner des gro­ßen al­ten Hau­ses mit der gro­ßen al­ten Tür schlum­mer­ten so tief, daß selbst die­ser Lärm sie nicht we­cken konn­te, denn auch sie hat­ten Zau­ber­trank ge­trun­ken. Und so rit­ten die drei tap­fe­ren Rit­ter schnell wie­der heim in ihr Schloß.

Am nächsten Morgen sah einer der ed­len Rit­ter das ar­me schmut­zi­ge Schild und mach­te sich dar­an, es zu put­zen. Flink lös­te er al­te Auf­kle­ber­res­te und sons­ti­gen Schmutz, bis das Schild wie­der glänz­te wie zu al­ten Zei­ten. Dann schrieb er eine Ein­la­dung an die Be­woh­ner des gro­ßen al­ten Hau­ses mit der gro­ßen al­ten Tür, daß sie am Mon­tag, den dreißig­sten Mai um zwan­zig Uhr cum tem­po­re ihr Schild wie­der ge­rei­nigt und im Aus­tausch ge­gen Zau­ber­trank ab­ho­len kön­nen.

Peter St.